Commemoraction: Ein Jahr nach dem Massaker von Pylos

Am 14. Juni 2023 wurden im Mittelmeer mindestens sechshundert Menschen getötet. Ihr Boot kenterte und sank – laut Berichten von Überlebenden  – als die griechische Küstenwache versuchte, es mit einem Seil aus der griechischen Rettungszone in Richtung italienische Gewässer zu schleppen.

United in Solidarity

Am selben Tag nahmen sich starke feministische Bewegungen die Strassen. Die Gleichzeitigkeit macht deutlich: Feminismus muss grenzenlos sein und sich entschlossen gegen das tödliche Grenzregime stellen. Mit der CommemorAction geben wir heute ein doppeltes Versprechen: diejenigen nicht zu vergessen, die ihr Leben verloren haben und gegen die Grenzen zu kämpfen, die sie getötet haben.

United in Solidarity – Bewegungsfreiheit und gleiche Rechte für alle!

Rede von Alarmphone

Am 7. April 2024 ruft mich ein Mann an, er vermisst seinen Bruder. Er sei am 14. Juni verschwunden, 2023. In einem Boot, mit 750 anderen. Bei Pylos. 

Von Freunden habe er gehört, dass 12 Menschen aus Pakistan, die auf dem Boot waren, jetzt in Linosa sind. Ob ich Linosa kenne? Ob ich ihm die Nummer von dem Gefängnis und der Küstenwache dort geben kann? Ich schlucke leer. Gerade 3 Monate vorher war ich dort. Linosa ist eine kleine Insel, eine stunde nördlich von Lampedusa. Linosa besteht vor allem aus 3 Vulkanen, es gibt dort kein Gefängnis, keine Küstenwache, nicht mal einen Hafen. Nur einen alten Leuchtturm und einen Supermarkt ohne frisches Gemüse. Ich sage ihm, dass es extrem unwahrscheinlich, also unmöglich ist, dass dort Leute angekommen sind, die auf der Adriana waren. Er sagt, es seien 750 Menschen auf dem Boot gewesen, wo sie denn nun alle sind? Ja, wo sind sie? 

Ich versuche mein Bestes zu erklären, dass Leute in den unteren Decks gewesen sind und dass die Adriana schnell gesunken ist, nachdem die Küstenwache sie gezogen hat. Dass sie durch das Ziehen auf die Seite kippte und die Leute nicht mehr raus konnten. Dass das Boot zu einer Falle geworden ist, und sie mit ihr untergegangen sind. Der Mann am Telefon sagt, ja sein Bruder sei im zweiten Deck gewesen. Aber trotzdem, sie hätten nur kurz nach Überlebenden gesucht und Handelsschiffe hätten ja auch Leute gerettet.

10 Monate später und die Menschen suchen immer noch nach ihren Verwandten und Freunden. Sie haben immer noch Hoffnung, dass sie irgendwo angekommen sind, am Leben sind. In einem Gefängnis, oder ohne Zugang zu Internet, oder dass ihre Handys kaputt gegangen sind am 14. Juni, im Meer, südwestlich von Pylos. Aber Linosa ist am anderen Ende vom zentralen Mittelmeer, etwa 700 Kilometer entfernt von Pylos.

Nie gab es ernsthafte Diskussionen, die Adriana zu bergen. Sie sei an der etwa tiefsten Stelle des Mittelmeers gesunken, 4500 Meter tiefes Meer, keine Chance. Das heisst aber auch, dass 80 km südwestlich von Pylos ein ehemaliges Fischerboot zum Sarg für 600 Leute gemacht worden ist. Ein mit viel Hoffnungen bestiegenes Boot, jetzt ein Massengrab am Meeresgrund.

Die europäische Verachtung für migrantisches Leben reicht bis in den Tod. Weil immer noch ca. 600 Menschen verschwunden sind, zirkulieren viele Gerüchte. Bei einem nächsten Telefonat höre ich, 200 Leute seien inhaftiert, auf einer Insel, irgendwo zwischen Linosa, Malta und Kalamata, ohne Kontakt zur Aussenwelt. Handelsschiffe hätten Überlebende aus dem Wasser gerettet und am nächsten Hafen der Polizei übergeben. Von aussen gehört, unmögliche Geschichten. Möglich geworden, daran zu glauben, ist es nur, weil es keine Leichen gibt, die identifiziert werden könnten. Es bleibt die Hoffnung in jede kleine Information, dass die geliebten Menschen doch irgendwo noch am Leben sind. Für viele Familien gab es keine Begräbnisse, keine Abschiede, kein Loslassen.Die Gewalt gegen people on the move weitet sich auf ihre Familien aus, die nicht abschliesen können. Ich höre von Müttern, die nicht mehr schlafen können, Brüdern, die nicht mehr essen. 

Zum Sterbenlassen an den europäischen Aussengrenzen gehört auch, dass Menschen verschwinden, für immer, ohne dass je wieder ein Spur von ihnen auftaucht. Es lässt ihre angehörigen alleine zurück zwischen verzweifelter Hoffnung und dem Wunsch nach Klarheit. Doch fast nie gibt es Antworten.

Immer wieder sprechen wir über Linosa, manchmal über Malta, Hunderte Kilometer weit weg von Pylos. Ob sie nicht doch dort sind, einige Überlebende?

Alarmphone

Rede von Bfa!

Heute vor einem Jahr wurden im Mittelmeer vor Pylos mindestens sechshundert Menschen getötet. Ihr Boot kenterte und sank – laut Berichten von Überlebenden  – als die griechische Küstenwache versuchte, es mit einem Seil in Richtung italienische Gewässer zu schleppen.

Heute und in den nächsten 20 Minuten wollen wir den Menschen gedenken, die am 14. Juni 2023 vor Pylos ihr Leben verloren haben. Gleichzeitig protestieren wir gegen das tödliche Europäische Migrationsregime, dass diese Tode zu verantworten hat. 

Als heute vor einem Jahr flüchtende Menschen vor Pylos sterben gelassen wurden, niemand zur Hilfe kam, nahm sich gleichzeitig, am selben Tag, hier in der Schweiz eine starke feministische Bewegung die Strassen. 

Für uns ist klar: Feminismus darf nicht an Grenzen halt machen. Feminismus muss grenzenlos sein. Feminisitischer Widerstand bedeutet: Solidarität mit dem Kampf gegen das tödliche europäische Grenzregime. 

Wir wollen keinen Feminismus, der sich für die Rechte und die Befreiung Einzeler einsetzt. Wir wollen keinen Feminismus, dessen primäres Ziel es ist, mehr Frauen in Verwaltungsräte oder Chef*innenpositionen zu versetzen. Wir wollen keinen Feminismus, der uns alle «We should all be feminist» T-shirts tragen lässt, die von Näher*innen in Bangladesch zu einem Hungerlohn hergestellt werden. 

In der Konsequenz heisst das: Wir dürfen nicht wegschauen, wenn Europas Grenzen immer höher, länger und massiver werden. Unser feministischer Streik / unser Protest richtet sich auch gegen die Gewalt gegen flüchtende Menschen, die an den europäischen Aussengrenzen längst zum Alltag geworden ist. Unsere Solidarität gilt auch den Überlebenden von Pylos, den trauernden Familien und all jenen, die sich täglich über Grenzen hinwegsetzen und für Bewegungsfreiheit kämpfen. 

Denn während wir hier gemeinsam ein Leben erträumen, in dem wir alle selbstbestimmt über uns, über unsere Lebensentwürfe und Körper entscheiden können und gemeinsam dafür kämpfen, sind Menschen am 14. Juni 2023, als sie sich den Grenzen widersetzt haben, genau dabei gestorben. 

Feminismus darf nicht an Grenzen halt machen! 
Feminismus muss grenzenlos sein! 
Bewegungsfreiheit für alle! 
Beiberecht für alle! 
Brick by brick, wall by wall make the fortress Europe fall!