Commemoraction: Zwei Jahre nach dem Massaker bei Melilla
Das Massaker bei Melilla ist Ausdruck der rassistischen Todespolitik Europas. Am 24. Juni 2022 töteten marokkanische und spanische Grenzpolizist*innen mindestens 27 flüchtende Migrant*innen. Nebst diesen offiziell bestätigen zählt die marokkanische Nichtregierungsorganisation AMDH weitere 70 Personen, die seither als vermisst gelten. Insgesamt verloren an diesem Tag wohl 100 Menschen das Leben. Wütend und traurig gedenken wir den Getöteten des Massakers bei Melilla.
Die Polizei tötete mutige Menschen
Vor zwei Jahren versuchten 2’000 Menschen nach Melilla zu gelangen. Die kleine spanische Exklave auf dem marokkanischen Festland ist einer der wenigen Orte, wo europäisches Asyl beantragt werden kann, ohne die gefährliche und teure Reise über das Mittelmeer wagen zu müssen. Die Getöteten des Massakers bei Melilla wollten vielleicht einem Krieg, der Armut oder den Folgen der Klimakrise entkommen, in die Nähe von Freund*innen und Verwandten in Europa gelangen, eine neue Perspektive suchen oder schlicht eine Lohnarbeit finden. Gäbe es Bewegungsfreiheit, würden sie wohl noch leben.
Im Kessel der Grenzpolizei gefangen und getötet
Border Forensics rekonstruierten, was sich am 24. Juni 2022 abspielte. Zuerst liess die marokkanische Grenzpolizei zu, dass sich rund 2’000 Migrant*innen der Grenze näherte. Dann drängte die Polizei die Gruppe mit Gewalt in den Innenhof des Grenzpostens Barrio-Chino, wo sie eingekesselt wurden. Stundenlang waren sie dort Schlägen, Tränengas und Gummischrot ausgesetzt. Spanische und marokkanische Grenzpolizist*innen erschlugen Menschen mit Steinen oder Schlagstöcken. Tote und Schwerverletzte wurden übereinandergeworfen und ohne Hilfe auf dem Boden liegen gelassen. In der Panik wurden Menschen zu Tode getrampelt. Viele verletzten sich zudem, als sie den bis zu 10 Meter hohen Grenzzaun hinaufkletterten, um dem Massaker zu entkommen.
Migrant*innen sind Spielball von nationalistischen und kolonialen Interessen
Spanien und die EU finanzieren die marokkanische Grenzpolizei, damit diese bei Melilla für Europa die Funktion des Gatekeepers ausübt. Am 24. Juni zeigte sich, wie weit die gemeinsame Grenzabwehr gehen soll. Spaniens sozialdemokratische Ministerpräsident Pedro Sanchez kritisierte das Massaker nicht. Er sprach auch keine Trauerbekundung aus, sondern gratulierte den Grenzpolizist*innen für ihre Reaktion auf den «gewaltsamen Angriff auf Spaniens territoriale Integrität».
Erinnern heisst Kämpfen
Indem wir an die Getöteten des Massakers bei Melilla erinnern, wollen wir dazu beitragen, dass ihre Geschichte und das Unrecht, das ihnen angetan wurde, nicht in Vergessenheit gerät. Unsere Aktion will öffentlich aufarbeiten, sichtbar machen und solidarisch an die weltweiten Bewegungen der Menschen, die vor der Festung Europa nicht halt machen, anknüpfen. Gemeinsam wollen wir soziale Verhältnisse schaffen, in denen die rassistische Todespolitik Europas durch eine Politik für alle ersetzt wird. Erinnerungsarbeit hilft im Kampf für Bewegungs- und Bleibefreiheit, soziale Gerechtigkeit und Klimagerechtigkeit für alle den politischen Kompass nicht zu verlieren
Rede von Bfa!
Vor exakt zwei Jahren erreichten uns verstörende Bilder. Bilder von brutaler Gewalt an Menschen, die in Melilla die Grenze überqueren wollten. Von Verletzten und leblosen Körpern, aufeinandergestapelt. Von Grenzpolizisten, die stundenlang auf die wehrlosen Körper einschlagen und -treten. Sie rufen «die!» und schlagen weiter. Mindestens 37 Menschen verloren an diesem Tag im Juni 2022 ihr Leben. Über 70 bleiben bis heute verschollen. Schnell werden diese Bilder der Gewalt des Grenzregimes zu Normalität: Pylos, Melilla, jedes Jahr ein neues Massaker. Die Liste der Getöteten wird länger und die Verletzungen und Narben der Überlebenden werden tiefer. Die Übermittlungen ihrer Geschichten, schnüren uns den Hals zu, lassen uns vestummen und machen uns ohnmächtig. Jeden Tag mordet das europäische Grenzregime und beendet für viele die Suche nach einer lebenswerten Zukunft.
Was bleibt ist der Versuch des Widerstands – hier, gerade jetzt, im Kleinen. Nicht vergessen ist auch eine Art, widerständig zu sein.
Was geschah in Melilla? Der Versuch einer Rekonstruktion
23. Juni 2022
Bereits seit drei Tagen vertrieb die Polizei die Menschen aus den Bergen im Nordosten Marokkos nahe bei Melilla, einer spanischen Exclave an der Küste Nordafrikas. Viele von ihnen flüchteten vor dem andauernden Krieg im Sudan, andere starteten ihre Migrationsroute aus dem Tschad. Die marokkanische Grenzpolizei drängt regelmässig Menschen gewaltsam zürück. Finanziert und im Auftrag von Europa. Schon seit Wochen ging die Polizei mit erhöhter Gewalt vor, doch in den letzten Tagen spitzte es sich weiter zu. Täglich wurden die migrierenden, flüchtenden Personen vertrieben, ihre Zelte angezündet und ihr Essen geklaut. Auch wurde ihnen verboten sich in naheliegenden Stadt Nador neues Essen zu besorgen. Die Menschen wehrten sich gegen die Angriffe der Polizei. Warfen mit Steinen und Stöcken gegen die aufgerüsteten Polizisten und trugen schwere Verletzungen davon. die Polizei setzte ein Ultimatum. Innerhalb 24 Stunden sollen sie alle das Gebiet verlassen, oder sie werden erschossen.
24. Juni 2022, 4 Uhr Morgens
Eine Gruppe von rund 2’000 Menschen machte sich auf den Weg. Von den Bergen ging es vier Stunden in Richtung Melilla. Einzelne gaben Anweisungen nicht die übliche Ausrüstung mitzunehmen, die sie sonst brauchen, um den höchsten Grenzzaun Europas zu überqueren. Viele sind diese Route noch nie gegangen und folgten anderen, die den Weg kannten. Er führt direkt zum Grenzübergang Barrio Chino, welcher seit dem Beginn der Pandemie geschlossen ist. Bereits um kurz nach 4 wissen die marokkanischen wie auch die spanischen Behörden Bescheid. Neben dem Grenzübergang Barrio Chino stehen dutzende Einsatzfahrzeuge bereit. Doch die Polizisten stoppten die Menschen auf dem Weg zum Grenzübergang nicht. Sie warteten ab. Erst als die Menschen direkt vor Barrio Chino stehen, greifen die marokkanischen Polizisten an und umzingeln sie. Schnell wird die Situation unübersichtlich. Der einzige Ausweg bleibt der Grenzübergang. Menschen klettern über die Mauer des Grenzübergangs und finden sich dort gefangen. Auf sie hagelt es Gummigeschosse und Tränengas ein. Innerhalb von 10 Minuten werden über 20 Tränengas-Kanister auf die Menschen in der Grenzanlage geschossen. Die die es nicht in die Grenzanlage geschafft haben, werden draussen von marokkanischen Polizisten brutalst zusammengeschlagen.
Das Massaker
Die Luft innerhalb der Grenzanlage ist gefüllt mit Tränengas. Einige müssen schwere Kopfverletzungen durch Tränengas-Kanister oder Schläge der Grenzpolizisten ertragen. Menschen sind auf die Dächer der Anlage geklettert und versuchen sich mit Steinen gegen die Polizei zu wehren. Andere versuchen das Tor zum Grenzübergang zu öffnen. Schliesslich fällt das Tor zu Boden und die Menschen stürmen durch den kleinen Ausgang hindurch. Einige stürzen zu Boden und werden von den Massen erdrückt. Im gleichen Moment öffnen die marokkanischen Polizisten das Tor und stürmen auf die Menschen los. Sie schlagen auf die Menschen ein. Statt Verletzte zu retten wird weiter auf sie eingeschlagen. Die marokkanischen und spanischen Polizeikräfte schleppen die Körper der Menschen zurück auf marokkanischen Boden. Egal ob tot oder verletzt. Die Geschenisse rund um den Grenzübergang Barrio Chino werden über vier Stunden von einem spanischen Helikopter gefilmt. Auch Überwachungskameras in der Anlage selbst, beobachten den Ablauf des folgenden Massakers. Die Aufnahmen bleiben der Öffentlichkeit bis auf einige wenige Sekunden vorenthalten. So können auch die beeindruckenden und detailreichen forensischen Kontruktionen nur umreissen, was sich für eine Brutalität in der Grenzanlage abspielte. Am diesem Tag werden 470 Menschen illegal von Spanien nach Marokko zurückgedrängt. Nur 134 der rund 2’000 schaffen es, einen Asylantrag in Spanien zu stellen. Sowohl auf spanischer, wie auch marokkanischer Seite stehen die Krankenwagen bereit. Nicht um Leben zu retten, sondern um die Körper der ermordeten wegzubringen. So bleiben die teils schwer verletzten Personen über drei Stunden in der Sonne liegen. Menschen versteckten sich unter den töten Körpern, um nicht auch selbst von den Polizisten umgebracht zu werden. Nach dem Massaker wurden die Überlebenden von dem Grenzübergang in Nador in mindestens acht Bussen in abgelegende Gebiete Marokkos verfrachtet. Auf dieser Busfahrt verstarb mindestens eine weitere Person.
Die Antwort der Regierungen:
«Angesichts des extrem gewalttätigen Verhaltens der Migrant*innem, haben die spanischen Beamten absolut verhältnismässig gehandelt. Dass die Polizisten die Migrant*innen geschlagen hätten sei eine eklatante Verdrehung der Wahrheit.» Dies verkündete das spanische Innenminesterium im Machgang des Massakers von Melilla. Auch Marokko behauptete, sie seien nicht menschenrechtswidrig vorgegangen. Rassismus verkehrt die Wahrheit, legitimiert Gewalt. Es ist die Macht, ohne Rechtfertigung Gewalt auszuüben.
Seit 2014 sind mindestens 892 Menschen an der Grenze zwischen Marokko und Spanien umgekommen. Grenzen werden auch weiterhin töten. Uns bleibt dagegen zu kämpfen. Für Bewegungsfreiheit für alle. Wandeln wir unsere Trauer zu Wut und Widerstand.