Wochenschau vom

Ausschaffungspläne im Parlament, Rechtsrutsch in Europa, Suizidgefahr in Gefängnissen

Was ist neu?

Frankreich: Macron löst nach Rechtsrutsch das Parlament auf

Was sich lange abzeichnete, bestätigte sich am Wochenende. Macrons Partei schnitt anlässlich der Europaparlamentswahlen am Wochenende sehr schlecht ab. Klare Siegerin ist in Frankreich die ultrarechte Partei Rassemblement National von Marine Lepen. Auch der Ex-Chef von Frontex Leggeri wurde für die RN ins Euopaparlament gewählt. Unerwartet handelte jedoch Macron, nachdem die Wahlergebnisse bekannt wurden. Der Präsident löste das französische Parlament auf und verkündete Neuwahlen am 30. Juni und am 6. Juli.

Dass Macron das Parlament zu einem Zeitpunkt auflöst, an dem seine Wähler*innenbasis kleiner ist als je zuvor, gleicht einem politischen Selbstmord oder einer Opfergabe an die Ultrarechten. Beim zweiten Hinsehen lässt sich Macrons bekannte Wahlkampftaktik erkennen. Er stellt den Stimmberechtigten erneut die Gretchenfrage: «Seid ihr wirklich sicher, von der RN regiert werden zu wollen?» Macron präsentiert sich einmal mehr als letztes Schutzschild gegen den Faschismus. Ob ihm die Übung auch diesmal gelingen wird, ist mehr als offen.

https://www.mediapart.fr/journal/politique/100624/dissolution-un-coup-de-poker-au-peril-des-institutions

Jerusalem: Nationalistisch-rassistischer Mob feiert Besatzung des muslimischen Ostviertels

Dieses Jahr fiel der sogenannte «Jerusalemtag» auf den 5. Juni. Mit einem Marsch und tausenden Israel-Flaggen feiern nationalistische Israelit*innen üblicherweise die jüdische Vorherrschaft über das muslimische Ostjerusalem ab. Dieses Jahr entfesselte der Mob weit mehr als symbolische Gewalt. Die meist jungen israelischen Jüd*innen randalierten in der Altstadt. Sie belästigten und attackierten die muslimischen Palästinenser*innen. Immer wieder schrien sie rassistische Parolen. 

Die Demonstrant*innen riefen: «Euer Dorf soll brennen», «Shuafat steht in Flammen», «Mohammed ist tot» und sangen ein mörderisches Lied von der «Rache», das eine gegen die Palästinenser*innen gerichtete biblische Aufforderung aufgreift: «Ihr Name soll ausgelöscht werden». Nebst den Israelflaggen trugen Menschen auch Flaggen der jüdisch-suprematistischen Gruppe Lehava oder von Gush Katif – dem israelischen Siedlungsblock, der im Rahmen des «Disengagement» 2005 aus Gaza geräumt wurde und nun Anspruch auf Rückkehr kundtut. Auf Schildern standen auch Aufschriften wie «Eine Kugel in den Kopf jedes Terroristen» und «Rafah dem Erdboden gleichmachen». 

Die Polizei schaute billigend zu und zeigte so, was der israelische Staat vom Mob hielt. Die Beteiligung von Itamar Ben Gvir, dem Minister für nationale Sicherheit, und vom Finanzminister Bezalel Smotrich, die sich gegen Ende den rassistisch singenden und tanzenden Demonstrierenden anschlossen, unterstrich dies zusätzlich. 

Was geht ab beim Staat?

Erhöhte Suizidgefahr in den Gefängnissen der Schweiz

In der Schweiz starben 2022 auf 10’000 Insass*innen durchschnittlich 20.2 an Suizid. Das sind viermal mehr als europaweit, wo der Suizid-Wert bei 5.3 liegt. Die Zahlen stammen von einer neue Studie der Uni Lausanne. 

Besonders bedroht von diesem Risiko sind nicht-schweizerische Personen. Sie sind in den Schweizer Gefängnissen mit einem Anteil von 71% deutlich übervertreten. Europaweit liegt der Anteil ausländischer Staatsangehörigkeit in Gefängnissen bei rund 20%. Nur in Luxemburg werden mehr Ausländer*innen inhaftiert als in der Schweiz. 

Relativierend muss gesagt werden, dass die verglichenen Prozentwerte aufgrund der niedrigen Fallzahlen – besonders in kleinen Ländern – statistisch problematisch sind, da sie schnell stark ausschlagen. Dennoch wäre es fahrlässig, das Problem kleinzureden, denn der Staat trägt bei Freiheitsentzug die volle Verantwortung für das Recht auf Leben und den Schutz der Gesundheit jedes einzelnen inhaftierten Menschen. 

Die hohe Suizidrate hängt sicherlich mit bekannten Problemen im Schweizer Strafvollzug zusammen. Erstens sind viele der Gefängnisse überfüllt. Anfangs Mai waren schweizweit insgesamt 6’881 Personen inhaftiert. Es habe schweizweit nur noch Platz für maximal 300 Insass*innen gegeben.

Zweitens befinden sich chronisch zu viele junge Menschen in Gefängnissen. Besonders bei ihnen wirkt sich ein Gefängnisaufenthalt negativ auf die Integrationschancen in den Kapitalismus aus. Dies frustriert sie sicher und macht sie quasi wegen dem Gefängnisaufenthalt rückfallgefährdeter aber auch suizid-anfälliger. 

Drittens sind die Gefängnisse oftmals menschenverachtende Orte der Folter. Seit zehn Jahren empfiehlt die Nationale Kommission zur Verhütung von Folter (NKVF), das Gefängnis Porrentruy im Jura aufgrund von «unmenschlichen Haftbedingungen» zu schliessen. Die Insass*innen haben während der gesamten Dauer ihrer Haft keinen Ausgang ins Freie, was eine «unmenschliche und erniedrigende Behandlung» im Sinne von Artikel 3 der Europäischen Menschenrechtskonvention darstellt.

Dass es in der Schweiz nach wie vor an vertieften Zahlen mangelt, um das Suizidrisiko in Gefängnissen besser zu verstehen, deutet auf den Unwillen der Behörden hin, genau hinzuschauen. Der Kantönligeist müsste statistisch überwunden werden, um Licht auf die gesellschaftliche Tabuzone Gefängnis zu werfen. Die Verhältnisse sichtbar zu machen, erleichtert die Aufgabe, sie abzuschaffen. 

Was schreiben andere?

Ruanda-Ausschaffungen sind unmenschlich und absurd

Heute hat der Nationalrat entschieden, dass abgewiesene Eritreer*innen künftig nach Ruanda oder einen anderen Drittstaat ausgeschafft werden dürfen. Der Ständerat hat die FDP-Motion bereits gutgeheissen. Eine Minderheit von abgewiesenen Eritreer*innen direkt zu diskriminieren, verstösst gegen das Gleichheitsgebot der Verfassung. Ausschaffungen in ein Land, wo Personen nie zuvor lebten, die Sprache nicht sprechen, niemanden kennen, sind unmenschlich und absurd. Insbesondere, weil die Asylpraxis der Schweiz gegenüber Eritreer*innen generell zu kritisieren ist: Eine Rückkehr nach Eritrea ist unzumutbar. 

Ein Text vom Migrant Solidarity Network

Eine Annahme der Motion würde schweizweit rund 300 abgewiesene Eritreer*innen treffen, die meisten von ihnen leben schon seit mehreren Jahren in der Schweiz. Aktuell sind sie in der Nothilfe blockiert. Die Schweiz bietet ihnen keine Perspektive und das eritreische Regime akzeptiert keine Abschiebungen. Eine Ausschaffung nach Ruanda wäre für sie unzumutbar. Eritreer*innen flüchteten vor einer schrecklichen Diktatur und setzten ihre Hoffnung auf ein Land, das für Demokratie und Menschenrechte bekannt ist. Stattdessen sollen sie nach Ruanda ausgeschafft werden. Ein Land, das Menschenrechte, insbesondere Meinungs-, Medien- und Versammlungsfreiheit, missachtet. 

Neben den menschenrechtlichen Problemen dieses Entscheids (Auslagerung von in einem Land gemachten Asylentscheiden in einen Drittstaat) entspricht die so angestrebte Verbindung zwischen der Schweiz und Ruanda einer kolonialen Logik. Die Schweiz lagert selbst geschaffene und selbst zu lösende Probleme ihres restriktiven Asylsystems in ein Land des Globalen Südens aus. Die Leidtragenden sind die abgewiesenen eritreischen Personen. 

Rechte Parteien – allen voran die SVP – kreieren ein falsches Narrativ

Die Verschärfungen im Umgang mit Eritreer*innen sind auf eine Hetzkampagne der SVP zurückzuführen. Seit 2015 verbreitet diese ein falsches Narrativ über Eritreer*innen und behaupten ohne Faktengrundlage es wäre zumutbar, Eritreer*innen auszuweisen. Mit Wirkung: Die Asylpraxis wurde verschärft, was von der UN-Sonderberichterstatterin auch schon kritisiert wurde. Die heute diktierte Motion der FDP ist nicht die einzige, die zeigt, dass auch bürgerliche Parteien versuchen, mit dem SVP-Rassismus gegen Eritreer*innen Schritt zu halten.

Ausschaffungen nach Eritrea sind unzumutbar

Eritrea zählt zu den schlimmsten Diktaturen der Welt. Auf dem World Press Freedom Index befindet sich das Land auf dem letzten Platz. Auf dem Global Slavery Index nimmt Eritrea nach Nordkorea den zweiten Platz ein. Betreffend Eritrea-Ausschaffungen zeigen Recherchen von Reflekt, dass Eritreer*innen, die zurückkehrten, in Eritrea gefoltert wurden und erneut flüchten mussten.

Ausschaffungen nach Eritrea sind unzumutbar. Die Strategie, Personen zuerst in einen Drittstaat auszuschaffen, der sie dann an Eritrea ausliefern soll, ist unmenschlich und absurd.

Eritreer*innen brauchen Schutz und Perspektiven und keine Ausschaffungen

Statt Ausschaffungen nach Ruanda gäbe es eine viel einfachere und nachhaltigere Alternative für alle Beteiligten: Einen geregelten Aufenthaltsstatus für die betroffenen Eritreer*innen in der Schweiz. Bereits heute sieht das Gesetz diese Möglichkeit vor, wenn die praktische Durchführbarkeit einer Ausschaffung nicht gegeben ist.

Statt Repression und Abschreckung plädieren wir dafür, dass Wege zur gesellschaftlichen und ökonomischen Teilhabe von Eritreer*innen erarbeitet werden. 

Was steht an?

CommemorAction: Kein Vergeben, kein Vergessen – ein Jahr nach dem Massaker von Pylos!

14. Juni | 14:20 Uhr | Vögeligärtli, Luzern
14. Juni | 21:00 Uhr | Wiese, Kasernenareal Zürich

Am 14. Juni 2023 wurden im Mittelmeer mindestens sechshundert Menschen getötet. Ihr Boot kenterte und sank – laut Berichten von Überlebenden – als die griechische Küstenwache versuchte, es mit einem Seil aus der griechischen Rettungszone in Richtung italienische Gewässer zu schleppen.

Am selben Tag nahmen sich starke feministische Bewegungen die Strassen. Die Gleichzeitigkeit macht deutlich: Feminismus muss grenzenlos sein und sich entschlossen gegen das tödliche Grenzregime stellen. Mit der CommemorAction geben wir heute ein doppeltes Versprechen: diejenigen nicht zu vergessen, die ihr Leben verloren haben und gegen die Grenzen zu kämpfen, die sie getötet haben.

United in Solidarity – Bewegungsfreiheit und gleiche Rechte für alle!

NoGEAS – Infoanlass zum Gemeinsamen Europäischem AbschottungsSystem

19. Juni | 18 Uhr | Politforum Käfigturm, Marktgasse 67, Bern
21. Juni | 19 Uhr | Bundeshaus, Bundesstrasse 13, Luzern

Die EU hat die grösste Asyl(abbau)-Reform ihrer Geschichte beschlossen, von der auch die Schweiz betroffen ist. Asylverfahren werden neu in Haftlagern an den Aussengrenzen durchgeführt. Ausschaffungen in unsichere Drittstaaten werden vereinfacht und die Dublin-Richtlinien verschärft.

Wir stellen die wichtigsten Änderungen vor und fragen: Was bedeutet die Reform für Menschen auf der Flucht? Wie wird die Schweiz davon betroffen sein? Und wie organisieren wir uns dagegen?

Lesens-/Hörens-/Sehenswert

Männer töten Frauen – und die Schweiz nimmt es hin

Jeder dritte Mord in der Schweiz ist ein Femizid. Trotzdem fehlt das Verständnis dafür, dass Menschen aufgrund ihres Geschlechts getötet werden, noch immer. Das verantworten auch Staat und Politik.
https://daslamm.ch/maenner-toeten-frauen-und-die-schweiz-nimmt-es-hin/

European Migration Regimes in Times of Crises

https://zetkin.forum/publications/import-deport-european-migration/