Wochenschau vom

Die Taliban-Normalisierung, der Abschiebe-Chef, das Frontex-Jubiläum

Was ist neu?

Normalisierung des Taliban-Regimes

Demonstration für die Rechte von Frauen in Afghanistan anlässlich des Weltfrauentages.

Das Büro der Direktion für Entwicklungshilfe und Zusammenarbeit will humanitäre Hilfe in Afghanistan wieder aufnehmen. So normalisiert die offizielle Schweiz die Beziehungen zu den Taliban und ermöglicht es, die Abschiebungen nach Afghanistan wieder aufzunehmen.

Im August 2021 kamen die Taliban in Afghanistan an die Macht und viele Botschaften schlossen ihre Türen. So auch die der Schweiz. Nun hat der Bund entschieden, das Büro der Direktion für Entwicklungshilfe und Zusammenarbeit (DEZA) im Herbst wieder zu öffnen. Es soll diplomatische Aufgaben übernehmen sowie Entwicklungshilfsorganisationen unterstützen. Dabei wollen sie sich besonders auf humanitäre Hilfe konzentrieren, wobei sie einen Fokus auf NGOs legen, welche von Frauen geführt werden.

Die Unterstützung von zivilen Organisationen in Afghanistan kann vielen Menschen den Alltag erleichtern. Allerdings stellt sich die Frage, ob die offizielle Schweiz an der richtigen Stelle ansetzt. Das Konzept der Entwicklungshilfe investiert oft nur in westliche Vorstellungen von Entwicklung oder behält betroffenen Menschen in Abhängigkeitsverhältnissen. Zudem möchte sich der Bund für Menschenrechte einsetzen, doch wird das Recht auf Asyl keineswegs berücksichtigt. Für ein (humanitäres) Visum, um in die Schweiz zu reisen und Asyl zu beantragen, bleiben die Botschaften in Pakistan oder im Iran zuständig. Der Weg dorthin ist lang, teurer und gefährlich.

Durch die aufgenommenen Beziehungen mit Afghanistan normalisiert die offizielle Schweiz das Regime der Taliban, um Abschiebungen von kriminalisierten, aus Afghanistan geflüchteten Personen, zu ermöglichen. Mit einer Abschiebung von geflüchteten Menschen, welche das Gericht verurteilt hat, verdoppelt die Schweiz ein Problem, das sie selber kreiert. Das restriktive, unmenschliche Asyl-, Justiz- sowie Polizeisystem ist auf Diskriminierung und Repression rassifizierter Menschen aufgebaut.

Was geht ab beim Staat?

Abschiebespezialist wird Staatssekretär für Migration

Der Bundesrat hat Vincenzo Mascioli, der bisher als Vizedirektor des SEM tätig war, zum neuen Staatssekretär für Migration ernannt. Im Januar wird er die Nachfolge von Christine Schraner Burgener antreten.

Vor sieben Jahren wurde Mascioli unter der früheren Justizministerin Simonetta Sommaruga als Vizedirektor ins SEM geholt. Dort war Mascioli unter anderem für die Zusammenarbeit mit anderen Staaten wie auch für die Ausschaffung von abgewiesenen asylsuchenden Personen zuständig. Während seiner Amtszeit hat die Schweiz rund ein Dutzend sogenannter Rückübernahmeabkommen und Migrationspartnerschaften abgeschlossen, welche die Ausschaffung von abgewiesenen asylsuchenden Personen vereinfachen sollten.

So war Masciolis Bereich auch für die kürzliche Ausschaffung von zwei Personen mit afghanischer Staatsbürger*innenschaft verantwortlich. Seit 2019 gab es keine Ausschaffungen nach Afghanistan mehr.

In der Medienkonferenz zur Ernennung von Mascioli wurde erneut betont, dass ein zentrales Ziel des neuen Staatssekretärs darin bestehen wird, abgewiesene asylsuchende Personen schneller und einfacher ausschaffen zu können.

SEM schliesst Bundesasylzentren

Neun der 36 temporären Bundesasylzentren mit insgesamt 1735 Plätzen sollen bis Ende Januar 2025 geschlossen werden – auch dies ist ein Resultat der tödlichen europäischen Abschottungspolitik. 

Das SEM begründet diesen Entscheid mit der tieferen Anzahl an gestellten Asylgesuchen: Im August seien 23 Prozent weniger Gesuche eingereicht worden als im Vorjahr, im September gar 40 Prozent weniger. Die Auslastung der Bundesasylzentren betrage derzeit gesamtschweizerisch 51 Prozent. 

Der Grund für die Abnahme der Asylgesuchszahlen in der Schweiz ist die Abschottungspolitik Europas, die Migrationskontrolle und Grenzen immer stärker externalisiert. Fluchtbewegungen auf der mittleren Mittelmeerroute, worüber die meisten flüchtenden Menschen in die Schweiz kommen, sind weitgehend blockiert. Die Gewalt und das Sterben haben sich teilweise in nordafrikanische Länder wie Tunesien verlagert. 

So werden nun in der Asylregion Zürich die Mehrzweckhalle in Dübendorf und die Zivilschutzanlage Turnerstrasse geschlossen, sowie das Truppenlager im Eigenthal der Asylregion Tessin und Zentralschweiz. Weitere Lager werden in der Region Nordwestschweiz, Ostschweiz und in der Westschweiz geschlossen. 

Sudan: SEM streikt und verweigert Schutz

Der Krieg im Sudan ist im April 2023 ausgebrochen. Die Kämpfe zwischen dem Militär (SAF) und paramilitärischen Kräften (RSF) erfasst mittlerweile das ganze Land. Aufgrund der Gewalt, der Verfolgung sowie der humanitären Lage befinden sich Millionen Menschen auf der Flucht. Doch statt den Schutz von Asylsuchenden aus dem Sudan zu gewährleisten, hat das Staatssekretariat für Migration (SEM) am 28. Februar 2024 ein sogenanntes Entscheid- und Vollzugsmoratorium verhängt. Seither behandelt es die Asylgesuche von Menschen aus dem Sudan schlicht und einfach nicht mehr.

Zwölf Millionen Sudanes*innen befinden sich auf der Flucht. Die meisten sind Binnenvertriebene im Land selbst. Knapp 3 Millionen wurden schon mehrfach vertrieben. Weitere zwei Millionen Menschen sind in die Nachbarländer Tschad, Südsudan, Äthiopien, in die Zentralafrikanische Republik oder nach Ägypten geflohen. Demgegenüber stehen die Asylzahlen eines der reichsten Länder der Welt. Laut einer Mitteilung der Schweizerischen Flüchtlingshilfe entfielen letztes Jahr von den insgesamt 30‘214 Asylgesuchen lediglich 207 Gesuche auf Personen aus dem Sudan. Dieses Jahr erreichten bis Ende Juni rund 60 Asylgesuche aus dem Sudan die Schweiz.

Gegen dieses Asylmoratorium wurde bereits beim Bundesverwaltungsgericht (BVGer) eine Rechtsverzögerungsbeschwerde eingereicht. Doch die Richterinnen Jeannine Scherrer-Bänziger (SVP), Giulia Marelli (FDP) und Daniela Brüschweiler (BDP) stellen sich in ihrem Urteil vom 24. September 2024 hinter das SEM. Bevor dieses die Arbeit wieder aufnehme, dürfe es sich Zeit nehmen, um mehr Informationen über die Lage im Sudan zu sammeln. Insbesondere könne das SEM die Ergebnisse der Friedensgespräche von Mitte August 2024 in Genf abwarten.

Ziel der Friedensgespräche war ein Waffenstillstand. Der Erfolg blieb aus. Die sudanesische Armee (SAF) schickte nicht einmal eine eigene Delegation nach Genf. Im September wurde von 15‘000 Toten seit Kriegsbeginn ausgegangen; zehntausende Menschen kamen in den Kämpfen um, noch mehr starben an den Folgen von Ernteausfällen und fehlender medizinischer Versorgung. Im September veröffentlichte die UN-Fact-Finding Mission for the Sudan einen detailreichen Bericht. Darin werden schwerwiegende Menschenrechtsverletzungen und internationale Verbrechen der SAF wie auch der RSF kritisiert. Beide Konfliktparteien sind für gezielte und wahllose Angriffe auf Menschen, Krankenhäuser, Schulen sowie Wasser- und Stromversorgung verantwortlich. Beide Seiten haben Vergewaltigungen, Folter, willkürliche Verhaftungen und Misshandlungen, die als Kriegsverbrechen gelten könnten, begangen. Was braucht das SEM noch, um sich vom Leid im Sudan ein Bild zu verschaffen?

Es verhärtet sich der Eindruck, das SEM und das BVGer spielen auf Zeit. Für betroffene Asylsuchende ist das Warten auf unbestimmte Zeit und in grosser Ungewissheit psychisch stark belastend und juristisch entrechtend. Im Moment tobt der Krieg. Es herrscht eindeutig eine Situation allgemeiner Gewalt. Die humanitäre Situation ist erwiesenermassen katastrophal. Würde das SEM das Moratorium heute aufheben, stünde den Asylsuchenden aus dem Sudan laut Gesetz (Art. 83 Abs. 4 AIG) mindestens eine vorläufige Aufnahme zu. Dies bestätigt auch die Schweizerische Flüchtlingshilfe. 

Das SEM wird die Situation im Sudan – wie es zynisch sagt – „laufend und sorgfältig“ beobachten. Wohl bis es zu einem gegebenen Zeitpunkt zum Schluss kommt, dass sich die Situation im Allgemeinen entspannt habe. Diese Hinhaltetaktik ist diskriminierend. Der Vergleich mit der Praxis betreffend der Schutzsuchenden aus der Ukraine zeigt einmal mehr den institutionellen Rassismus der Behörden: Bei primär weiss gelesenen ukrainischen Kriegsvertriebenen wurde der Schutzstatus S aktiviert, um möglichst schnell eine «Integration» im Schweizer Kontext zu ermöglichen, während Menschen aus dem Sudan im asylrechtlichen Schwebezustand gehalten und isoliert werden.

Was ist aufgefallen?

Frankreich: Neue Regierung surft auf der rassistischen Welle

Centres de rétention administrative (CRA)

Die neue Regierung von Michel Barnier will die Administrativhaft verlängern. Diese Pläne werden bis ins bürgerliche Lager hinein als ein Kniefall vor dem ultrarechten Rassemblement National (RN) verschrien. Obwohl der RN nach seiner Wahlniederlage nicht in der Regierungskoalition vertreten ist, ist er in der Lage, die amtierende Regierung vor sich her zu treiben.

Die letzte Verschärfung des Ausländer*innengesetz setzte die Macron-Regierung vor noch nicht einmal einem Jahr durch. Trotzdem will die neue Regierung der „Republicains“ erneut Verschärfungen. Personen mit Wegweisungsentscheiden, die aufgrund von Sexualstraftaten verurteilt wurden, sollen länger in Administrativhaft genommen werden. Allgemein liegt die maximale Dauer der Administrativhaft bei 90 Tagen. Für Sexualstraftäter*innen soll das Maximum auf 210 Tage verlängert werden. Bisher war diese verlängerte Administrativhaft nur bei Personen, die als Terrorgefahr eingestuft wurden, möglich.

Dass sich – wie behauptet wird – durch diese Verschärfung mehr Menschen abschieben lassen, ist statistisch nicht zu belegen. Wenn eine Botschaft oder ein Konsulat in den ersten Wochen kein Laissez-Passer ausstellt, stimmt sie einer Abschiebung durchschnittlich auch später nicht zu. Nur 3% der Abschiebungen erfolgen in der letzten Phase der Administrativhaft zwischen Tag 75 und 90.

Interessant erscheint zudem ein Vergleich mit den Schweizer Verhältnissen. Während in Frankreich die Verlängerung der Adminhaft für Sexualstraftäter*innen auf 210 Tagen von Vielen als skandalös eingestuft wird, beträgt in der Schweiz die maximale Haftdauer für alle ausreisepflichtigen Personen insgesamt 18 Monate – ohne dass diese straffällig geworden wären. In der Schweiz können sogar Minderjährige zwischen 15 und 18 Jahren bis zu zwölf Monate in Administrativhaft genommen werden. Die Schweiz setzt zudem die Zwangausschaffungen härter durch. 79% der Personen in Administrativhaft werden abgeschoben. In Frankreich liegt die Rückführungsquote der Personen in Adminhaft bei 36%.

Die ungleichen Administrativhaftregime und unterschiedlichen Diskussionen über sie zeigen auf, wie hart in der Schweiz mit rassistischer Gewalt und Zwang gegen abgewiesene Personen vorgegangen wird und wie stark diese Unterdrückung unsichtbar und normalisiert daherkommt.

PS: Administrativhaft bedeutet Freiheitsentzugs, um Menschen mit Wegweisungsentscheid festzuhalten bis zur Ausschaffung, oder um sie dazu zu bringen, die nötigen Papiere für ihre Ausschaffung selbst zu beschaffen, damit sie ausgeschafft werden können. Es braucht keine Verurteilung, um in Administrativhaft genommen zu werden, ein behördlicher Entscheid ist ausreichend.

Grossbritannien: Keine Entschädigung für das Unrecht der Sklaverei

Vertreter*innen der karibischen Länder, die dem Britischen Commonwealth angehören, fordern von Grossbritannien eine Entschädigung für die Sklaverei. Der frischgewählte Labour Premierminister Keir Starmer lässt die Forderung jedoch abblitzen. 

Wie kann sich die britische Labour-Regierung den finanziellen Folgen des Gedenkens an die Sklaverei entziehen? Dies ist das Thema des Commonwealth-Gipfels, einem Treffen von 56 Staatenvertretenden, das am Freitag, 25. Oktober, auf den Samoa-Inseln in Polynesien stattfand. Die meisten der vertretenen Staaten sind ehemalige britische Kolonien. Zusammen fordern sie „ausgleichende Gerechtigkeit“ bzw. eine Entschädigung für den Sklavenhandel in der Höhe von 21,5 Billionen Euro.

Doch der ehemalige Menschenrechtsanwalt Keir Starmer zog wie alle seine Vorgänger*innen die Handbremse. Es gebe derzeit andere Prioritäten, meinte er schlicht. Dass Keir Starmer, als er sich noch in der Opposition befand, für finanzielle Entschädigungen war, vergass er stillschweigend.

Wo gab es Widerstand?

20 Jahre Frontex – Nichts zu Danken!

In der Nacht vom 23. auf den 24. Oktober wurden in Zürich, Basel, Bern und Luzern über 1000 Werbeposter aufgehängt, auf welchen Frontex der Schweiz dankt für «20 Jahre treues Schweigen, neutrales Zuschauen und grosszügiges Finanzieren». Die Plakate wurden im Rahmen einer politischen Aktion an Plakatwänden angebracht oder in Trams und Bussen ausgetauscht, um anlässlich des 20-jährigen Bestehens der europäischen Grenzagentur einmal mehr die Kritik daran in den öffentlichen Raum zu tragen.

Hinter der Aktion steckt ein Aktionskollektiv von Menschen die sich unter dem Motto „Frontex – 20 Jahre zu viel“ zusammengefunden haben. «Mit der heutigen Aktion soll die Rolle der Schweiz bei ihrer Beteiligung an den menschrechtswidrigen Praktiken von Frontex ins öffentliche Bewusstsein gerückt werden. Die Irritation will sichtbar machen, dass die offizielle Schweiz mitverantwortlich ist für Frontex und somit auch für deren Taten» beschreibt das Aktionskollektivs die Aktion.

Die Schweiz unterstützt die Frontex als Schengen-Mitglied seit 2009 finanziell und personell. Jedes Jahr überweist sie 61 Millionen an die grösste Agentur der EU. Aktuell verfügt Frontex über ein Budget von 5,6 Milliarden Euro sowie eine wachsende Truppe von bald 10’000 Grenzpolizist*innen. Ursula von der Leyen, Präsidentin der Europäischen Kommission, plant jedoch bereits den nächsten Ausbau3, welcher die Truppe verdreifachen würde. Dies hätte möglicherweise auch einen erneuten Anstieg der Schweizer Beteiligung zur Folge. «Dazu darf es nicht kommen. Anstatt für dringend nötige sichere Fluchtwege zu sorgen, fördert Frontex einen regelrechten Krieg gegen Migration.» kommentiert Ada Deniz.

Lesens -/Hörens -/Sehenswert

45. Newsletter „Rassismuskritische Migrationspädagogik“ Oktober 2024
https://www.rassismuskritik-bw.de/45-newsletter-rassismuskritische-migrationspaedagogik/

Kompass AntiRa Newsletter No. 127 – September 2024
https://antira-kompass.info/sites/default/files/2024-09/127KompassNL.pdf

Was tun gegen Diskriminerung an der Schule
https://adis-ev.de/wp-content/uploads/2024/10/LANGFASSUNG_Was_tun_gegen_Diskr_an_Schulen-1.pdf