Wochenschau vom

Neuer Deal, erneuerter Kolonialismus, alte Unterkunft

Was ist neu?

Neuer Deal zwischen Meloni und Abdel Hamid Dbeibah

Der libysche Premierminister Abdel Hamid Dbeibah und die italienische Ministerpräsidentin Giorgia Meloni trafen sich am 29. Oktober in Tripolis, um acht Abkommen zu unterzeichnen. Das Ziel dieser Abkommen ist, die politische und wirtschaftliche Zusammenarbeit zwischen den beiden Staaten zu stärken. Neben anderen handels- und wirtschaftsbezogenen Abkommen konzentriert sich ein Abkommen besonders darauf, die sogenannt illegalisierte Migration über das Mittelmeer zu bekämpfen. 

Das offizielle Italien will seine Ziele erreichen, indem es Menschen in Libyen einfacher Zutritt nach Italien gewähren will, wenn sie einen Arbeitsvertrag in Italien haben. Eine Voraussetzung dafür ist allerdings eine anerkannte Ausbildung. Dies erlaubt es also nur privilegierten Menschen, auf dem legalen Weg nach Italien zu gelangen. Da Libyen ein Transitland auf der Migrationsroute ist, kommen viele flüchtende Menschen, die Libyen über die illegalisierte Mittelmeerroute verlassen, nicht aus Libyen. Damit ist fragwürdig, ob diese Bestimmungen tatsächlich den legalen Fluchtweg für mehr Menschen zugänglich macht. Nicht zuletzt ist dies auch eine Möglichkeit für das offizielle Italien, im Voraus auszuwählen, welche Art migrierender Menschen sie ins Land lassen: Und zwar diejenigen, die ausbeutbare Ressourcen ins Land bringen und somit dem Staat in seiner Logik «nützlich» sein können.

https://www.lemonde.fr/afrique/article/2024/10/30/signature-d-accords-dans-les-domaines-des-investissements-et-des-infrastructures-entre-l-italie-et-la-libye_6366732_3212.html
https://www.agenzianova.com/de/news/Libyen%2C-Italien%2C-acht-auf-dem-Wirtschaftsforum-in-Tripolis-unterzeichnete-Vereinbarungen%2C-Wiederaufnahme-der-Direktfl%C3%BCge%2C-Ita-Airways-2/

Andauernde Gewalt gegen flüchtende Menschen in Tunesien

Eine Gruppe flüchtender Personen aus Sierra Leone berichtet davon, dass tunesische Behörden Migrant*innen in der Wüste nahe der libyschen Grenze ausgesetzt. Davor würden die Menschen geschlagen, um dann ohne Geld, Wasser und manchmal ohne Handys oder Essen ihrem Schicksal überlassen zu werden.

Die Gewalt gegen flüchtende Menschen geht in Tunesien auch auf anderen Ebenen weiter: Im Juni wurden die in Tunesien beim UNHCR laufenden Asylverfahren bis auf Weiteres ausgesetzt. Hunderte migrierende Menschen sitzen ohne Rechtsschutz fest. Die Gründe für die Aussetzung sind unklar, doch reiht sich diese in die Repressionen der tunesischen Regierung gegen Menschenrechtsorganisationen und flüchtende Menschen ein.

https://www.infomigrants.net/en/post/59851/tunisia-migrants-remain-missing-after-alleged-abandonment-in-desert​​​​​​​
https://www.infomigrants.net/en/post/60899/stuck-in-limbo-tunisias-suspension-of-asylum-procedures-leaves-migrants-stranded
Plus:
https://www.theguardian.com/world/2024/oct/23/eu-refuses-to-publish-findings-of-tunisia-human-rights-inquiry

Was ist aufgefallen?

Vom Lilienberg nach Paradiso: Gewollte Missstände für UMAS

Ehemalige Betreuungspersonen wenden sich an die Medien, um über die prekären Unterbringungen Unbegleiteter Minderjähriger Asylsuchender (UMAS) zu berichten. Zuletzt war es der Lilienberg in Zürich, nun Paradiso bei Lugano. Viele Jugendliche auf engem Raum und zu wenig Betreuungspersonen. Für den Staat billig, für die Betroffenen schrecklich.

In einem verlotterten Häuserblock in Paradiso (TI) müssen etwa 100 UMAS leben. Aussen bröckelt die Fassade, innen sind baufällige Wasser- und Strominstallationen zu finden. Die Unterbringung hätte bereits vor 10 Jahren geschlossen werden sollen, doch der billige Mietpreis der Liegenschaft war für den Staat attraktiv. Wegen der desolaten Infrastruktur werden die Jugendlichen nun in ein neues Provisorium ziehen. Dies behebt vielleicht die baulichen Mängel, doch eine ausreichende Betreuung ist damit nicht sichergestellt.

Gegenüber dem SRF schildert ein Jugendlicher die Situation: «Ich weiss nicht, warum die Betreuungskräfte uns nicht helfen. Es gibt viel Bürokratie, sie müssen viele Aufgaben erledigen, und sie kommen nicht in unsere Zimmer. Sie verstehen nicht, was in unseren Köpfen vorgeht, dass wir Probleme haben… Wir sind viele, Betreuungspersonen gibt es nur wenige, vielleicht ist das das Problem.» 

Zuletzt machten sich 2022 Betreuungspersonen aus dem Lilienberg im Kanton Zürich hörbar. Auch sie berichteten von desolaten Unterbringungs- und Betreuungsverhältnissen. Die chronisch unterbelegten und überforderten Betreuungspersonen berichteten von Chaos und Gewalt. Nach dem medialen Aufschrei wurde die Belegung ganz leicht reduziert und eine Untersuchung eingeleitet. 

Der Staat will sparen. Das billigste Angebot gewinnt und die Lebensbedingungen der Unbegleiteten Minderjährigen Asylsuchenden und die Arbeitsbedingungen der Betreuungspersonen bleiben nebensächlich.

Bildbeschreibung: Bröckelnde Fassaden, instabile Bausubstanz. Ein Blick auf den Wohnblock in Paradiso (TI)

https://www.srf.ch/play/tv/-/video/-?urn=urn:srf:video:2c01d6e1-8aa7-4f3c-9966-23f161433c48
https://www.srf.ch/news/dialog/asylzentrum-im-tessin-das-lange-warten-in-paradiso
https://daslamm.ch/minderjaehrig-gefluechtet-und-alleingelassen/

KKS und weitere in Washington bei Jahrestagung von IWF und Weltbank

Bundesrätin Karin Keller-Sutter, Bundesrat Guy Parmelin und Nationalbankpräsident Martin Schlegel haben vom 23. bis 25. Oktober 2024 an der Jahrestagung des Internationalen Währungsfonds (IWF) und der Weltbank in Washington teilgenommen. Ein kurzer Überblick über koloniale Kontinuitäten.

In der Medienmitteilung des Bundes wird deutlich, wie IWF-Finanzhilfen und sogenannte Reformprogramme eng zusammenhängen. Das bedeutet nichts anderes, als dass sich koloniale Kontinuitäten fortsetzen. So ist die Vergabe von Krediten oder „Hilfen“ an unterdrückende Bedingungen geknüpft:
1. meistens sind die Ziele der Programme an sogenannt westliche Standards‘ geknüpft, welche als einzige erstrebenswerte Alternative angesehen werden. Die Werte, Lebensrealitäten, Kenntnisse und Fertigkeiten der Bevölkerung vor Ort werden nicht mit einbezogen und abgewertet.
2. die Zinsen, die mit den Finanzhilfen verbunden sind, führen zu weiteren Schulden und Abhängigkeiten. Und das in einem Schuldensystem, das nach wie vor von Zahlungen durchzogen ist, welche nach den Kämpfen für Unabhängigkeit zu Zeiten des Kolonialismus erfunden wurden.
3. häufig sind Zahlungen nicht nur an sogenannte Entwicklungsstandards geknüpft, sondern auch an Bedingungen, welche letztlich nichts anderes bedeuten, als die Drecksarbeit für Europa zu übernehmen, z.B. in der sogenannten Migrationskontrolle (vgl. auch den Artikel zu Libyen).

Der Fluss von Geld externalisiert die Aussengrenzen Europas – Europas langer Arm – und hält koloniale Kontinuitäten aufrecht. Dann wird er erst noch als gute Tat getarnt: „Dabei betont die Schweiz ihr langjähriges finanzielles Engagement zugunsten ärmerer Länder.“

https://www.admin.ch/gov/de/start/dokumentation/medienmitteilungen.msg-id-102881.html

Wo gab es Widerstand?

Besetzung durch die Gemeinde Tabaco in La Guajira, Kolumbien

Seit acht Tagen besetzen die Menschen der Gemeinde Tabaco die Schienen der Kohlemine Cerrejon. Die Kohlemine gehört dem Schweizer Konzern Glencore und ist die grösste Lateinamerikas. Auf den besetzten Schienen werden sonst täglich 80.000 bis 100.000 Tonnen Kohle transportiert, die anschliessend zum Export abgefertigt werden.

Die Bewohner*innen von Tabaco haben sich, nachdem sie am 9. August 2001 gewaltsam von ihrem Territorium vertrieben wurden, in der „Junta social pro reubicacion“ zusammengeschlossen. Damals haben sie gemeinsam einen Kampf begonnen, der bis heute andauert. Nach fast 40 Jahren Kohleabbau durch die Mine Cerrejón sind die Spuren der Ausbeutung in La Guajira unübersehbar. Die erschreckenden Zahlen zu Armut, Arbeitslosigkeit, Unterernährung und Krankheiten belegen, dass die Menschen aus La Guajira betrogen wurden. Das Versprechen von Fortschritt durch die Kohle bedeutete hier die Ausbeutung Aller für die Profite von einigen wenigen – für transnationale Unternehmen wie Glencore mit Sitz in der Schweiz.

Trotz ständiger Einschüchterungsversuche lässt sich die Gemeinde nicht beirren. Ihr friedlicher Protest ist ein klarer Appell an die Gerechtigkeit: Sie fordern das, was ihnen gesetzlich zusteht – ein existenzsicherndes Minimum: die Umsiedlung und den Wiederaufbau ihres sozialen Gefüges!

Die Gemeinde von Tabaco wartet seit 23 Jahren darauf, dass ihre Forderungen erfüllt werden, was sie letztendlich, am 28. Oktober 2024, dazu gebracht hat, friedlich die Schienen zu blockieren. An jedem einzelnen Tag der Blockade herrscht eine Atmosphäre des Kampfes und der Würde, die inspiriert und Hoffnung gibt. La lucha sigue!

Was steht an?

Nationale Demo gegen Gewalt und Unterdrückung

23. November | 14:00 Uhr | Schützenmatte, Bern

Häusliche, sexualisierte und geschlechtsspezifische Gewalt gehören in der Schweiz zum Alltag. Allein dieses Jahr zählen wir bereits 11 Femizide. Wir haben genug von der gesellschaftlichen Gleichgültigkeit und der politischen Verantwortungslosigkeit.

Eine breite Allianz an feministischen Organisationen ruft auf zur nationalen Demo gegen Gewalt und Unterdrückung am Samstag, 23. November.​​​​​​​

Rap für Rächt und gäge rechts von der Freiplatzaktion Zürich

Die Freiplatzaktion setzt sich für die Wahrnehmung und Durchsetzung der Rechte von geflüchteten bzw. migrierten Menschen und ihren Angehörigen ein. Auch dieses Jahr haben wir Menschen auf die Bühne eingeladen, die sich in ihrer Musik mit gesellschaftskritischen Fragen auseinandersetzen.

Der Erlös geht vollumfänglich an die Freiplatzaktion.

https://freiplatzaktion.ch/9-november-rap-fur-racht-und-gage-rechts

Lesens -/Hörens -/Sehenswert

TANGRAM 48: Polarisierung und Kampf gegen Rassismus
https://www.ekr.admin.ch/publikationen/d108/1390.html

Geschichte antirassistischer Bewegungen in der Bundesrepublik Deutschland nach 1945
https://www.bpb.de/themen/rassismus-diskriminierung/rassismus/521319/geschichte-antirassistischer-bewegungen-in-der-bundesrepublik-deutschland-nach-1945/