Wochenschau vom

Abschottungspolitik in der Schweiz, Rassemblement National in Frankreich, Tote in der algerischen Wüste

Was ist neu?

Fluchtrouten-Update: Mittelmeer und Sahara

Letzte Woche wurden über 650 Menschen von vier verschiedenen zivilen Seenotrettungsschiffen aus Seenot gerettet. 14 Menschen wurden tot in der algerischen Wüste aufgefunden.

Rettungseinsätze im Mittelmeer

SEA EYE 4: 231 Menschen, 5 Rettungseinsätze 

Die Crew der Sea Eye 4 führte ab dem 7. Juli fünf Rettungseinsätze in 24 Stunden durch. Ein Sprecher der Organisation sprach davon, dass dies den momentanen Notstand auf dem Mittelmeer widerspiegle und betonte, wie wichtig deshalb die zivile Seenotrettung sei.

  • Zuerst wurden am Mittag des 7. Juli 46 Menschen von einem Gummiboot gerettet.
  • Einige Stunden später unternahm die Crew gemeinsam mit dem Segelschiff Nadir der Organisation RESQSHIP einen Rettungseinsatz: 60 Menschen wurden an Bord genommen. In ihr Gummiboot lief Wasser und es verlor Luft.
  • In der Nacht auf den 8. Juli nahm die Sea Eye 4 10 Menschen von einem Fiberglasboot an Bord.
  • Am frühen Morgen des 8. Juli gab es einen weiteren gemeinsamen Rettungseinsatz von Nadir und der Sea Eye 4. Hierbei wurden 58 Menschen an Bord genommen, in deren überfülltes Holzboot bereits Wasser eindrang.
  • Kurz nach Mittag desselben Tages wurden schliesslich 57 Menschen aus einem Gummiboot in Seenot gerettet. Diese wurden der italienischen Küstenwache übergeben.
    Die Überlebenden der ersten vier Rettungen blieben an Bord der Sea Eye 4, welcher der Hafen von Genua, 600 Seemeilen entfernt, zugeteilt wurde. Dort sind sie am 11. Juli von Bord gegangen.
GEO BARENTS: 87 Menschen, 1 Rettungseinsatz

Das Schiff der Organisation Ärzte ohne Grenzen nahm am 10. Juli insgesamt 87 Menschen Bord. Eine Patrouille der libyschen Miliz “Stability Support Apparatus” hatte sich dem Boot in Seenot genähert. Menschen waren daraufhin in Panik ins Wasser gesprungen, jedoch konnten alle von der Crew der Geo Barents gerettet werden.

EMERGENCY: 74 Menschen, 2 Rettungseinsätze

Das Schiff der Organisation Emergency nahm in zwei Rettungseinsätzen insgesamt 74 Menschen an Bord. Am frühen Morgen des 10. Juli veröffentlichte die Organisation, dass sie zuerst ein Boot mit 41 Menschen an Bord und anschliessend ein weiteres mit 33 Menschen an Bord aus Seenot gerettet hätten. Ihnen wurde der Hafen von Civitavecchia zugeteilt.

OCEAN VIKING: 261 Menschen, 5 Rettungseinsätze 

Am frühen Morgen des 9. Juli rettete die Besatzung der Ocean Viking in der libyschen Such- und Rettungszone in zwei Rettungseinsätzen insgesamt 120 Menschen aus Seenot.

  • Beim ersten Einsatz waren auch diesmal Menschen in Panik ins Wasser gesprungen, weil sich zwei bewaffnete und maskierte Männer auf das Boot begeben hatten. Das doppelstöckige Holzboot mit 93 Überlebenden an Bord war in der Nacht zuvor von Al Zawiya aufgebrochen.
  • Beim zweiten Einsatz wurden 27 Menschen von einem kleinen Holzboot an Bord genommen. Ihnen wurde der Hafen von Marina Di Carrara zugewiesen.
  • Am 10. Juli stabilisierte die Crew der Ocean Viking ein Metallboot mit Leck, bis die italienische Küstenwache die Menschen an Bord nahm. Sie waren von Sfax, Tunesien, aufgebrochen. Viele von ihnen hatten Verbrennungen durch Kraftstoff erlitten.
  • Daraufhin wurden 98 Menschen in den sich überschneidenden maltesischen und tunesischen Such- und Rettungszone an Bord genommen.
  • Schliesslich wurden abermals 43 Menschen von einem kleinen Holzboot aus Seenot gerettet.

Sahara

Vierzehn Menschen, zwölf aus Syrien und zwei aus Algerien, wurden tot in der algerischen Wüste aufgefunden. Fünf weitere werden noch vermisst. Die Opfer sind zwischen 10 und 55 Jahre alt. Ein Angestellter der syrischen Botschaft in Algerien liess verlauten, dass libysche Behörden die Migrant*innen vertrieben und zur Flucht nach Algerien, in die südliche Provinz Illizi, gedrängt hätten. Der Fund der vierzehn Leichen folgt auf einen Bericht des UNHCR mit dem Titel On this journey, no-one cares if you live or die: «Insgesamt sind für den Zeitraum von Januar 2020 bis Mai 2024 1’180 Todesopfer bei der Durchquerung der Sahara bekannt, die Zahl dürfte jedoch weit höher liegen», heisst es in dem Bericht. Die wachsende Zahl extremer Gewaltvorfälle, einschliesslich sexualisierter und anderer Formen geschlechtsspezifischer Gewalt, wurde in dem Bericht ebenfalls hervorgehoben.

«Kriminelle Banden und bewaffnete Gruppen sind neben Sicherheitskräften, Polizei, Militär, Einwanderungsbeamten und Grenzschutzbeamten die Hauptverursacher dieser Übergriffe», so die UN. Die meisten Fälle von geschlechtsspezifischer Gewalt sowie andere Formen körperlicher Gewalt, die auf den afrikanischen Migrationsrouten verzeichnet wurden, fanden auf der libyschen Seite der libysch-algerischen Grenze statt, so der Bericht. Das Forschungsteam, das hinter dem Bericht steht, hatte ebenfalls Hunderte Fällen von Organentnahmen gezählt.

Abschottung: Die Schweizer Beteiligung am BMVI-Fonds startet

Im März hat das Parlament entschieden, dass sich die Schweiz mit 300 Millionen Franken am Border Management and Visa Policy Instrument (BMVI-Fonds) beteiligen soll. Da kein Referendum zustande kam, finanziert die Schweiz ab dem 1. August den europaweiten Geldtopf für neue Projekte zur repressiven Grenzabwehr mit. 

Insgesamt 6.24 Milliarden Euro stehen von 2021 bis 2027 für Massnahmen der Bekämpfung von Migration und der Abschottung Europas zur Verfügung. Das ist mehr als doppelt so viel wie beim Vorgängerfonds. Aus diesem hat sich die kroatische Grenzpolizei eine Hundestaffel gekauft. Polen hat 280 Nachtsichtgeräte finanziert und Bulgarien hat sich 80 Gasanalysatoren gekauft. Nach den Frontex-Millionen fliessen somit erneut 300 Millionen Franken vom Schweizer Staat in ein Abschottungskässeli der Schengenstaaten.

Im Parlament hatte sich die SP für die finanzielle Beteiligung der Schweiz am BMVI-Fonds ausgesprochen. Die SP trägt mit diesem Abstimmungsverhalten die europäische Todespolitik mit. Die Grünen konnten sich einzig zu einer Enthaltung durchringen. Die einzige Gegenstimme kam von der SVP, welche das Geld lieber in die Abschottung an den Schweizer Grenzen investieren will.

Bleiben die grossen linken Parteien stumm, braucht es umso dringender eine starke Bewegung, die diese rassistische Todespolitik nicht weiter hinnimmt. Es braucht dringend Alternativen zu Sterbenlassen, Abschottung, Polizeibrutalität, Rassismus und Kolonialismus.

Was ist aufgefallen?

Frankreich: Einige Gründe für den Aufstieg des Rassemblement National

Jede dritte Stimme ging im zweiten Wahlgang an den Rassemblement National (RN). 10 Millionen Menschen wählten eine Partei, die 1972 von Faschist*innen, die das Vichy-Regime idealisierten, und Rassist*innen, die dem ehemals kolonialisierten Algerien nachtrauerten, gegründet wurde. Bis 2022 war der RN im Parlament noch kaum vertreten. Heute ist er dessen drittstärkste Kraft. Was ist geschehen?

Der Aufstieg begann in den 80ern mit der Zurückweisung der EU. Während die parlamentarische Linke das zusammenwachsende Europa vorwiegend als Friedensprojekt feiert und die etablierten Rechten den europäischen Wirtschaftsraums als Chance sehen, um neoliberale Reformen voranzupeitschen, kritisiert der RN die EU damals schon als elitäres linkes Projekt, das die nationale Souveränität, Wirtschaft und Sicherheit gefährde. Damit sicherte sich der RN die Unterstützung eines Teils der (Nicht-)Wähler*innen, die sich von den Eliten nicht vertreten sondern verachtet und vom neoliberalen Kapitalismus bedroht fühlen oder unter seinen Folgen leiden und deshalb nicht (mehr) von linken Positionen überzeugt sind.

Rassismus und der Hass gegen Links bilden den roten Faden der Erfolgsgeschichte des RN. Als es ab den 80er-Jahren zu Massenentlassungen und Arbeitslosigkeit kommt, punktet der RN, indem er Migrant*innen, Muslim*innen und der linken Politik die Schuld zuschreibt. Als es in Frankreich zu Terroranschlägen kommt, verortet der RN die Ursache im Islam und Multikulturalismus und erntet damit politischen und medialen Zuspruch. Wenn Musliminnen ihre Recht einklagen, z.B. um ein Kopftuch zu tragen, polemisiert der RN im ähnlichen Stile gegen den vermeintlichen «Islamo-Gauchisme» wie die Nazis gegen den vermeintlichen «Judeo-Bolschewismus» hetzten und punktet auch damit.

Im Nationalismus fand der RN einen Ausweg aus der braunen Ecke. Dieser führte ihn in die Mitte der Gesellschaft. Lange war der RN für viele aufgrund des offenen Rassismus unwählbar. Marine Le Pen erkannte dies und arbeitet deshalb an der Entdiabolisierung. Der RN verzichtet zunehmend auf direktes rassistisches Hetzen. Die Herabsetzung von Muslim*innen und Migrant*innen wird dadurch nicht minder sondern anders. Das rassistische Feindbild wird indirekt konstruiert, indem der RN vorgibt, die Nation gegen Gefahren von Aussen und Innen zu verteidigen oder sich als der wahre Wahrer der nationalen Sicherheit, Freiheit, Identität oder gar der westlichen Zivilisation aufspielt.

Der Nationalismus zahlt sich für den RN doppelt aus. Denn im Parlament behauptet jede Partei, nur das Beste fürs Land zu wollen. Irgendwie bekennen sie sich alle zu einer Form von Nationalismus. Doch der RN vertritt den Nationalismus in den Augen Vieler offenbar am glaubwürdigsten. Auf die EU-Kritik behält er das Monopol und punktet, indem er gegen den Ausverkauf der Heimat an die Eliten in Brüssel spricht. Ist von Migration die Rede, punktet der RN, weil er sie schon immer als Bedrohung für das Land dargestellt hatte. Als die etablierten rechten aber auch linke Parteien vermehrt begannen, explizit nationalistische Inhalte, Sprache und Ästhetik zu übernehmen, erschien der RN Vielen noch mehr als das Original, das sie der Kopie vorziehen.

Heute wählen längst nicht mehr nur Faschist*innen und offene Rassist*innen den RN. Nebst den sogenannten Globalisierungsverlierer*innen, die sich in der linken Politik nicht (mehr) wiedererkennen, sind es zunehmend auch jene, die vermeintlich progressive Lebensstile zurückweisen und im verdichteten städtischen Leben im Fahrrad- oder ÖV-Fahren, im Bio Essen und im regionalen Konsum oder woken ökologischen Werten kein Ideal erkennen (wollen). Jene, die im Einfamilienhaus auf dem Land oder der Eigentumswohnung in der Vorstadt wohnen, Auto fahren, und traditionell leben wollen oder müssen.

Auf Faschist*innen und offene Rassist*innen können wir verzichten. Alle anderen sollten wir für ein antirassistisches, antikoloniales, antikapitalistisches und antipatriarchales Gesellschaftsprojekt auf der Basis von Bewegungs- und Bleibefreiheit sowie sozialer und Klimagerechtigkeit gewinnen. Lasst es uns tun.